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20.03.2017 - Fachartikel - Medien / Marketing

Experimente an Schutzbefohlenen

(Initiative Mittelstand)

Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus, klagt in seinem neuen Buch die Bildungsreformitis in Deutschland an. Aber nicht nur. Er gibt auch Tipps, was Eltern dagegen tun können. Das Buch mit dem Titel „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt - Und was Eltern jetzt wissen müssen“ ist seit heute auf dem Markt. Wir veröffentlichen Auszüge aus dem Vorwort.

Von Josef Kraus

Dieses Buch ist keine Gebrauchsanleitung für die Zerstörung eines ehemals weltweit angesehenen Bildungswesens, sondern eine – bisweilen grimmige – Untersuchung der Trümmer und Ruinen, die deutsche Bildungspolitik und deutsche Bildungswissenschaften hinterlassen haben: Trümmer und Ruinen, die man mittels  „Reformen“ hinterlassen hat.

Seit den 1960er Jahren werden solche Reformen in Szene gesetzt, zumeist sind Deformationen daraus geworden. Damals unterwarf man Bildung bzw. das, was man dafür hielt, einem radikalen Egalisierungswahn. Kaum hatte sich das deutsche Schulwesen mit diesem Wahn arrangiert oder ihn halbwegs abgepuffert, folgte der nächste Wahn. Er trägt seit der Jahrhundertwende von 2000 die Namen „Pisa“ und „Bologna“.  Dabei sind Pisa und Bologna doch „nur“ Städte in Italien. Die Luftlinie zwischen beiden misst rund 120 Kilometer. Für manche Deutsche, die in Sachen Bildung missionieren, sind Pisa und Bologna allerdings die vermeintlich notwendigen Neugründungsmythen deutscher Bildungspolitik. Damit ist der Abstand zwischen „Pisa“ und „Bologna“ für eine zunehmend hysterisch-hypochondrisch angesäuerte Bildungspolitik und „Bildungsforschung“ die Entfernung von einer bildungspolitischen Fallgrube zur nächsten ……

Die Folge ist eine Politik wider besseres Wissen und wider jede Vernunft. Da können Bildungsexperimente, die immer zugleich Experimente an Schutzbefohlenen sind, noch so krachend scheitern, sie werden dennoch durchgezogen oder - wie etwa im Fall der Gesamtschule mit ihrer durchschlagenden Erfolglosigkeit - in neuem Gewand unter dem Etikett „Gemeinschaftsschule“ präsentiert. Damit und mit kuriosen Lehrplanreformen kann man ein Schulwesen innerhalb einer einzigen Legislaturperiode, in diesem Fall innerhalb von fünf Jahren, an die Wand fahren. Baden-Württembergs grün-rote Regierung hat dies von 2011 bis 2016 vorexerziert. Das „Ländle“, das seit Jahren und Jahrzehnten bei allen Leistungsstudien immer zu den vier besten unter Deutschlands sechzehn Ländern gehörte, ist in kürzester Zeit vom Musterschüler zum Problemfall geworden. Zum Beispiel ist Baden-Württemberg bei Ländervergleich des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) bei den neunten Klassen von 2010 bis 2015, dem Zeitpunkt des Tests, von einem Spitzenplatz auf Platz 12 im Lesen und Platz 14 beim Zuhören gefallen.

Hier scheint zu gelten, was Peter Sloterdijk feststellte: „Macht ist das Vermögen, die Tatsachen in die Flucht zu schlagen.“ Zwei seiner großen Vorgänger hätten es kaum anders gesagt: "Denn so ist der Mensch! Ein Glaubenssatz könnte ihm tausendfach widerlegt sein - gesetzt, er hätte ihn nötig, so würde er ihn immer wieder für wahr halten" (Nietzsche). Oder: "Was dem Herzen widerstrebt, lässt der Kopf nicht ein.“ (Schopenhauer). Mit solchem „Bildungs“-Verständnis aber stolpern unsere ewig-morgigen bildungspolitischen Schlaumeier in die stets gleichen Fallgruben.

Die fünf Fallgruben

Eine Falle ist die Egalitäts-Falle. Das ist die Ideologie, dass alle Menschen, Strukturen, Werte, Inhalte, ja sogar alle Geschlechter, von denen es ja nicht nur zwei, sondern bis zu sechzig geben soll, gleich bzw. gleich gültig seien. Das ist auch die Ideologie, dass es keine verschiedenen Schulformen, keine verschiedenen Begabungen, keine verschiedenen Fächer sowie keine bestimmten Werte geben dürfe.

Eine zweite Falle ist die Hybris-Falle. Das ist der aus dem Marxismus („Der neue Mensch wird gemacht“) und dem Behaviorismus („Der neue Mensch ist konditionierbar!“) abgeleitete Wahn, jeder könne total gesteuert und zu allem „begabt“ werden.

Eine dritte Falle ist die Falle der Spaß-, Erleichterungs- und Gefälligkeitspädagogik. Diese tut - angestrengt und sehr bemüht - so, als ob Schule immer nur cool sein könne und ja alles tun müsse, dass sich Kinder doch ja nicht langweilen müssten.

Eine vierte Falle ist die Quoten-Falle. Das ist die planwirtschaftliche Vermessenheit, es müssten möglichst alle das Abitur-Zeugnis bekommen und es dürften möglichst wenig oder gar keine Schüler sitzenbleiben. Dabei müsste doch eigentlich klar sein: Wenn alle Abitur haben, hat keiner mehr Abitur!

Und schließlich fünftens die Beschleunigungs-Falle. Das ist die Vision, man könne mit einer immer noch früheren Einschulung in immer weniger Schuljahren und mit immer weniger Unterrichtsstunden zu besser gebildeten jungen Leuten und zu einer gigantisch gesteigerten Abiturienten- und Akademikerquote kommen.

Fünf Fallgruben sind das - je nach Bundesland unterschiedlich intensiv ausgeprägt! In diesen fünf Fallgruben drohen Individualität, Leistung, Anstrengungsbereitschaft, natürliche Reifung und Qualität zu versinken. Und so wird seit Jahrzehnten, verschärft seit dem groß inszenierten Pisa-Schock, drauflos re- und deformiert. Reformen über Reformen werden in den Sand gesetzt, ohne Produkthaftung von Seiten derjenigen, die all dies inszeniert haben. Dass die allermeisten Reformen eben gerade denen schaden, denen sie zugutekommen sollten, nämlich den sozial Schwächsten, wird verdrängt. Die Kinder aus „gutem“ Hause bekommen die Verirrungen der Schulpolitik durch elterliches Zutun kompensiert, die Kinder aus „bildungsfernen“ Elternhäusern aber bleiben in ihren „restringierten Codes“, in ihren Herkunftsmilieus eingekerkert. Das gilt für die Einheitsschule gleichermaßen wie für „neue“ Formen eines (sogenannten) Unterrichts, in dem der Lehrer nur noch den Moderator spielt.

„Die Wüste wächst“ ist der Titel eines Liedes von Nietzsches Zarathustra. Dieses Bild hat Helmut Schelsky 1976 als Überschrift über ein Buchkapitel gewählt, um die Entkulturierung zentraler Institutionen der modernen Gesellschaft, darunter der Universität, zu charakterisieren. Um in diesem Bild zu bleiben: Die Bildungsnation wird unfruchtbar, sie verödet, weil ihre Grundlage erodiert. Die misslungenen, aber offiziell dennoch für erfolgreich erklärten Reformen sind wie ein Eingriff in die Ökologie von Bildung mit all ihren Folgen bis hin zum Verlust an Artenvielfalt, zum Beispiel Schularten-Vielfalt. Man könnte auch sagen: Diese Bildungsnation wird von den einen willentlich, von anderen naiverweise an die Wand gefahren – brav assistiert von den meisten Parteien, von den meisten Bildungsforschern, von moralisierenden Schwätzern, von diversen Stiftungen sowie von manch karriereorientiertem Lehrer und Schulleiter. Dass von höchster Regierungsseite eine „Bildungsrepublik“ ausgerufen wird, so Kanzlerin Merkel im Juni 2008, und auf diversen Bildungsgipfeln eitle Heerschauen inszeniert werden, ändert nichts daran. Sedativa sind das.

Wo bleibt eine bürgerliche Revolte?

Welche politische Kraft stellt sich all diese Verirrungen in den Weg? Antwort: Keine, nicht einmal mehr eine CDU. Dass sich die Bildungsnation Deutschland allmählich abschafft, hat damit zu tun, dass die vormals bürgerliche Volkspartei CDU schulpolitisch die Segel gestrichen hat. Jahrzehnte war sie gestanden: für ein begabungs- und leistungsorientiertes, vielfältig gegliedertes Schulwesen, gegen Einheitsschule, gegen eine verlängerte Grundschule, für eine stabile Hauptschule, für anspruchsvolle Abiturstandards, gegen eine Inflation an Hochschulzugängen, für eindeutige Anforderungen beim Zugang zum Gymnasium sowie für ein duales System der beruflichen Bildung. Heute kann man die Frage nach der schulpolitischen Ausrichtung der CDU nicht mehr so recht beantworten. CDU-Schulpolitik ist wie ein großer Teil der CDU-Politik „errötet“. Die CDU ist bildungspolitisch – auch wenn eine CDU-Kanzlerin eine „Bildungsrepublik“ ausgerufen hat – zu einem programmatischen Bauchladen geworden.

Literaturhinweis:

Josef Kraus, „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt - Und was Eltern jetzt wissen müssen“ München, Verlag Herbig. März 2017, 270 Seiten, 22 €

www.i-daf.org

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